
Erst kürzlich erlebte ich wieder solch eine Situation, die ich so oder so ähnlich in meiner christlichen Sozialisation zuhauf erlebt habe. Irgendwann regte sich in mir der Gedanke, ob das so, wie es dargestellt wurde, wohl richtig verstanden ist.
Vor ein paar Wochen trat eine Frau mittleren Alters auf die Bühne im Gottesdienst einer freikirchlichen Gemeinde, die ich sehr gerne besuche. Sie zitierte folgende Bibelstelle: „Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Timotheus 1,7). Und sprach eindringlich und emotional: „Wer von euch hat Angst, wenn er Nachrichten schaut im Angesicht von Krieg in der Ukraine oder anderen Teilen der Welt. Wer von euch sorgt sich nach den Bundestagswahlen in Deutschland?“ Sie betonte mit weit aufgerissenen Augen: „Gott sagt uns, wir sollen keine Angst haben, sondern unser Leben in Kraft, Liebe und Besonnenheit leben!“
In anderen Situationen hörte ich ähnliches in Zusammenhang mit dem Bibelvers „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“ (1. Johannes 4,18).
Angst ist eine der grundlegendsten menschlichen Emotionen. Sie hilft uns, Gefahren zu erkennen, hält uns wachsam und kann uns sogar zu klugen Entscheidungen führen. Doch in manchen christlichen Kreisen wird vermittelt, dass Angst mit einem starken Glauben nicht vereinbar sei.
Bibelstellen wie diese werden oft so interpretiert, als dürfe ein gläubiger Mensch keine Angst empfinden. Doch ist das wirklich die Botschaft dieser Verse?

„Ein Geist der Furcht“ – Was bedeutet das wirklich?
Zunächst einmal lohnt es sich, genau hinzusehen, worauf sich die biblischen Aussagen zur Furcht tatsächlich beziehen. Besonders im Neuen Testament taucht das Wort „Furcht“ oft im Zusammenhang mit Gottes Strafe oder dem Gericht auf.
Es ist wichtig, genau zu lesen:
Der Vers aus 2. Timotheus 1,7 spricht im Kontext davon, dass Timotheus als Diener Gottes mutig sein soll, um das Evangelium zu verkündigen – er braucht keine Furcht vor Widerständen oder Verfolgung zu haben, denn Gott gibt ihm Kraft. Der Vers spricht nicht davon, dass Widerstände, Verfolgung oder Ablehnung nicht eintretet werden. Er spricht davon, dass Timotheus trotz dem Bewusstsein, dass er auf Ablehnung stoßen kann, sich davon nicht abhalten lassen soll. Es heißt hier nicht, dass Gott uns keine Angst gegeben hat, sondern dass er uns keinen Geist der Furcht gegeben hat. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Angst als Emotion ist etwas anderes als ein „Geist der Furcht“. Eine Emotion ist eine vorübergehende Reaktion auf eine bestimmte Situation – etwa, wenn wir vor einer wichtigen Entscheidung stehen oder wenn Gefahr droht. Ein „Geist der Furcht“ hingegen beschreibt eine Haltung, die von Angst bestimmt wird, eine lähmende Furcht, die Menschen daran hindert, ihr Leben mit Kraft, Liebe und Besonnenheit zu führen.
In 1. Johannes 4,18 geht es um die vollkommene Liebe Gottes, die uns von der Furcht vor dem Gericht befreit: Wer in dieser Liebe lebt, muss keine Angst vor Gottes Strafe haben.
Das bedeutet: Die Bibel spricht hier nicht von der Angst als Emotion, die wir in unserem Alltag erleben, sondern von einer existenziellen Furcht vor Gott als Richter. Diese Angst wird durch das Evangelium aufgehoben – wer in Christus ist, braucht keine Furcht vor Verdammnis zu haben.
Gott ruft uns dazu auf, nicht von Angst überwältigt oder bestimmt zu sein. Aber das bedeutet nicht, dass wir als Christen nie Angst empfinden dürfen. Denn Angst ist eine menschliche, natürliche Reaktion, die, wenn sie adäquat erlebt und angemessen darauf reagiert wird, sehr wertvoll für das Leben ist.
Angst als wertvolle Emotion
Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist Angst ein überlebenswichtiger Mechanismus. Kinder lernen durch Angst, Risiken zu erkennen und sich zu schützen. Angst kann uns helfen, vor gefährlichen Situationen gewarnt zu sein oder uns auf Herausforderungen vorzubereiten. In der Emotionspsychologie wird Angst nicht als grundsätzlich negativ gesehen, sondern als eine natürliche Reaktion, die uns in unserem Leben begleitet und uns in bestimmten Momenten auch leitet.
Selbst Jesus erlebte Angst – etwa im Garten Gethsemane, als er angesichts des bevorstehenden Leidens betete: „Meine Seele ist tief betrübt bis zum Tod“ (Markus 14,34). Es wäre also falsch zu sagen, dass Angst im Leben eines Gläubigen keinen Platz haben dürfte.
Keine Angst vor Gott – aber Angst im Leben.
Die Bibel lehrt uns nicht, dass wir auf dieser Welt keine Angst haben werden. Vielmehr zeigt sie, dass wir in unserer Angst wissen dürfen, dass Gott mit uns ist. Der berühmte Psalm 23 spricht davon: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“ (Psalm 23,4). Angst wird nicht negiert, sondern durch Gottes Gegenwart relativiert.
Was die Bibel aber klar macht, ist, dass wir keine Angst vor Gott als strafenden Richter haben müssen, wenn wir in seiner Liebe leben. Die Furcht, von Gott verlassen oder verdammt zu werden, ist durch Jesus Christus aufgehoben.
Die Gefahr einer falschen Botschaft
Wenn Christen suggeriert wird, dass Angst zu haben falsch sei oder ein Zeichen für mangelnden Glauben, kann das schlimme Folgen haben. Menschen, die Angst erleben – sei es in schwierigen Situationen oder in Form einer Angststörung –, könnten sich dann schuldig oder mangelhaft fühlen.
Menschen mit einer Angststörung erleben Angst oft nicht als situative Reaktion, sondern als chronischen, oft irrationalen Zustand, der das tägliche Leben stark beeinträchtigen kann. Wenn ihnen dann gesagt wird: „Wenn du Gott wirklich vertrauen würdest, hättest du keine Angst“, kann das enormen seelischen Schaden anrichten. Es setzt sie zusätzlich unter Druck, lässt vielleicht Schuldgefühle entstehen, macht sie hoffnungslos oder entfremdet sie von ihrem Glauben.
Doch Angststörungen sind keine spirituelle Schwäche, sondern ernstzunehmende psychische Erkrankungen mit einer Ursache und einer dysfunktionalen Lerngeschichte. Und sie brauchen keine Verurteilung, sondern Mitgefühl, Unterstützung – und manchmal auch professionelle Hilfe.
Die biblischen Verse über Furcht sind keine Aufforderung, Angst völlig zu eliminieren. Vielmehr sind sie eine Einladung, sich nicht von ihr beherrschen zu lassen. Sie erinnern uns daran, dass wir in unserer Angst nicht allein sind. Gott verspricht nicht, dass wir nie Angst haben werden – aber er verspricht, dass er mit uns ist. Wir dürfen wissen, dass Gott uns durch Jesus angenommen und frei gemacht hat und dass er in unserer alltäglichen Angst bei uns ist.